5 Forderungen an dieEuropäischen Institutionen
Wahlaufruf der Lebensmittelwirtschaft: Lieber zu Ende denken!
Die Europäische Union ist der Heimatmarkt der deutschen Ernährungsindustrie und ein Garant für Frieden und Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Die Wahl zum Europäischen Parlament am 9. Juni 2024 muss diese Werte fördern.
Die Ernährungsindustrie ist der größte Arbeitgeber innerhalb der europäischen Industrie und erwirtschaftet einen jährlichen Umsatz von 1.112 Mrd. EUR, die deutsche Ernährungsindustrie trägt dazu 17 Prozent bei und ist damit die zweitgrößte Lebensmittelverarbeitung in Europa. Jeden vierten Euro verdienen deutsche Lebensmittelhersteller im EU-Ausland. Ein funktionierender Binnenmarkt ist damit die Basis für Wirtschafts- und Arbeitsplatzwachstum und Voraussetzung für wettbewerbsfähige Handelsbeziehungen mit Drittländern. Dabei ist nur ein geeintes Europa auf multilateraler Ebene verhandlungsstark.
Die Europäische Politik ist maßgeblich, wenn es um die Rahmenbedingungen für eine widerstandsfähige, wettbewerbsfähige und nachhaltige Lebensmittelproduktion geht. Sie kann Mindeststandards und Zielvorgaben setzen, Investitionen und Innovationen fördern und freien und fairen Handel innerhalb und außerhalb des Binnenmarktes ermöglichen. Die deutsche Ernährungsindustrie fordert von der zukünftigen Europapolitik den Erhalt ihrer Produktionsstandorte und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Dafür braucht es vor allem mehr Investitionen und Innovationen. Durch gezielte Förderprogramme und Anreize sollen Unternehmen dazu ermutigt werden, in moderne Technologien und nachhaltige Produktionsverfahren zu investieren.
Ein weiteres Anliegen ist der Abbau von Bürokratie. Die Ernährungsindustrie fordert eine Vereinfachung der Regulierungen und eine Reduzierung administrativer Hürden, um Unternehmen mehr Freiraum für ihre Geschäftstätigkeit zu geben.
Die wirtschaftliche Transformation ist ein wichtiger Aspekt, den die Ernährungsindustrie in den Fokus rückt. Durch eine gezielte Förderung von nachhaltigen Produktionsverfahren und die Entwicklung einfacher Nachhaltigkeitsstandards soll die Branche ihren Beitrag zum Klimaschutz leisten und gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich sein.
Zum Standorterhalt in der Lebensmittelproduktion ist eine gezieltere europäische Industriepolitik notwendig, die auch für die Ernährungsindustrie mehr Wertschöpfung, Wachstum und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit im Blick hat. Für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit braucht es mehr Investitionen. Es besteht eine erhebliche Finanzierungslücke, um die Nachhaltigkeitsbestrebungen der EU zu erfüllen. Schätzungsweise 8 Milliarden Euro pro Jahr werden benötigt, um Landwirte bei der Umstellung auf eine nachhaltigere Landwirtschaft zu unterstützen; weiter braucht es zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur für erneuerbare Energien; mindestens 6,7 Milliarden Euro sind laut Europäischer Investitionsbank (EIB) nötig, um die europäischen Ziele für das Kunststoffrecycling zu erreichen. Darüber hinaus beziffert die EIB die Finanzierungslücke aufgrund unerfüllter Kreditwünsche in der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft mit mindestens 12,5 Milliarden Euro.
Nicht alle Nachhaltigkeits- und Wohlstandsziele werden mit den heutigen Technologien möglich sein, insbesondere die Transformation der Lebensmittelproduktion ist von Innovationen abhängig. Ein innovationsfreundliches, wissenschaftlich fundiertes und berechenbares politisches Umfeld ist erforderlich, um Investitionen der Unternehmen in nachhaltige Produkte und neuartige Lebensmittel zu ermöglichen. Unternehmen brauchen Zugang zu Spitzentechnologien wie chemisches Recycling, neue Züchtungstechniken und digitalen Werkzeugen. Die überwiegend mittelständisch und eigentümergeführten Unternehmen der Ernährungsindustrie bestehen im globalen Wettbewerb nur dann, wenn es ihnen gelingt, sich mit innovativen Produkten, Prozessen und Dienstleistungen am Markt zu etablieren. Dazu gehört auch die Übertragung von Innovationen in der Digitalisierung in branchengerechte Anwendungen. Insbesondere das KI-Potenzial muss vollständig ausgeschöpft werden und darf nicht durch unverhältnismäßige EU-Regulierung behindert werden. Nur so kann eine Abwanderung von Fachkräften, Forschung und Finanzmitteln aus Europa verhindert werden. Ziel der Politik muss es deshalb auch sein, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Forschungsaktivitäten mittelständischer Unternehmen stärker zu unterstützen.
Wettbewerbsfähige europäische Lebensmittellieferketten sind ein grundlegendes Interesse der deutschen Ernährungsindustrie. Während auf der Erzeuger- und Verarbeitungsebene mehrere Tausend kleiner und mittelständischer Unternehmen im Wettbewerb zueinander stehen, führt der Weg zum Endverbraucher dagegen oft nur über den stark konzentrierten Lebensmitteleinzelhandel – in Deutschland beispielsweise allein über vier große Einzelhandelsunternehmen. Aufgrund dieser ungleichen Verhandlungsmacht müssen die Bedingungen der Handelsunternehmen von den Lieferanten gleichsam akzeptiert werden, um die Listung und damit den Kundenkontakt nicht zu verlieren. Preisanpassungen wegen steigender Produktionskosten und Kundenanforderungen müssen dabei meist von den Unternehmen selbst getragen werden, was deren Rentabilität maßgeblich belastet.
Die Ernährungsindustrie unterstützt daher die EU-Institutionen in ihren Bestrebungen, sich für wettbewerbsfähige europäische Lebensmittellieferketten und faire Geschäftspraktiken einzusetzen. Die EU-Richtlinie zur Bekämpfung unfairer Geschäftspraktiken in der Lebensmittellieferkette war ein Schritt in die richtige Richtung und ist nun in ihrer Wirksamkeit zu evaluieren und nachzubessern. Unabhängig davon sind jedoch noch weitere Maßnahmen notwendig, die mehr Fairness und weniger Bürokratie für die Lebensmittelhersteller zum Ziel haben.
Den Großteil ihrer Agrarrohstoffe bezieht die deutsche Lebensmittelverarbeitung aus dem EU-Binnenmarkt. Um weiterhin die regionalen Lieferketten zu stärken, ist eine bessere Marktorientierung der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) notwendig. So müssen innerhalb der EU gleiche Wettbewerbsverhältnisse bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Rohstoffe gewahrt werden. Im Rahmen der GAP muss es insbesondere für die Unterstützung einzelner Produkte klare gemeinsame Leitlinien geben, die eine Ungleichbehandlung der Erzeuger unterschiedlicher Mitgliedstaaten konsequent ausschließen. Darüber hinaus sollten die politischen Entscheidungsträger mit Stakeholdern zusammenarbeiten, um die globalen Schwachstellen in der Lieferkette zu erfassen und Maßnahmen zu entwickeln, um die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Getränken in Krisenzeiten zu sichern. Diese Maßnahmen müssen besonders für die Unternehmen wirtschaftlich und einfach umsetzbar sein.
Eine bessere Rechtssetzung und konsequenter Bürokratieabbau schonen Ressourcen und fördern das Unternehmertum. Die Grundsätze „One-in, one-out“ und „Think Small First“ sollten bei allen EU-Initiativen eingehalten werden. Neue Gesetze sollten wissenschaftlich fundiert sein und einer Folgenabschätzung sowie einem Wettbewerbsfähigkeitscheck unterzogen werden, um unbeabsichtigte Folgen zu vermeiden. Alle Gesetzesinitiativen müssen die spezifischen Bedürfnisse der KMU berücksichtigen, die 90 Prozent der Lebensmittel- und Getränkeindustrie ausmachen.
Die deutsche Ernährungsindustrie ist eng in den globalen Agrar- und Lebensmittelhandel über Importe und Exporte eingebunden und bekennt sich zu einer arbeitsteiligen Welt. Bis heute ist das Potential des EU-Binnenmarktes für Lebensmittel jedoch nicht voll ausgeschöpft und Handelsbarrieren bestehen fort. Die Vollendung des Binnenmarktes für Lebensmittel ist daher eine zentrale Forderung der Branche. Sowohl in der neuen EU-Kommission, als auch in dem neu gewählten EU-Parlament muss es daher eigenständige Verantwortlichkeiten für die Lebensmittelkette als Ganzes geben, die nicht nur auf den Bereich Landwirtschaft beschränkt sind.
Die internationale Handelspolitik, die in der Kompetenz der EU liegt, bildet ferner den Rahmen für die Import- und Exportaktivitäten der Unternehmen. Die Ernährungsindustrie fordert daher von den EU-Institutionen handelspolitische Regeln ein, die den Marktzugang für die deutsche Ernährungsindustrie verbessern und den grenzüberschreitenden Warenverkehr erleichtern. Die EU bleibt auch in einer resilienten und regional geprägten Lebensmittelverarbeitung auf diversifizierte nachhaltige Lieferketten mit Drittländern angewiesen, daher muss der bürokratische Aufwand für eine nachhaltige Rohwarenbeschaffung im EU-Ausland minimiert werden. Insbesondere eine EU-einheitliche, einfache, bürokratiearme, wirksame und rechtssichere Richtlinie zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten für Nachhaltigkeit in den Wertschöpfungsketten (CSDDD) muss zwischen den EU-Institutionen nachverhandelt werden. Alle EU-Handelsabkommen müssen die hohen europäischen Standards, etwa im Verbraucher-, Umwelt-, Tier- und Gesundheitsschutz wahren, um globale Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Zur Öffnung und Offenhaltung strategisch wichtiger Märkte sind multi- und bilaterale Handelsabkommen, bilaterale Abkommen und Zertifikate zur Tier- und Pflanzengesundheit sowie darüber hinaus eine gezielte Exportförderung notwendig.
Der größte Absatzmarkt der deutschen Ernährungsindustrie außerhalb Europas ist China. Der Abbau und die Prävention von Handelshemmnissen müssen aus Sicht der Branche daher im Fokus der handelspolitischen Gespräche der EU mit China sein. Der wichtigste transatlantische Handelspartner für die Ernährungsindustrie sind die USA. Seitdem die Gespräche über ein transatlantisches Freihandelsabkommen mit der EU jedoch ruhen und mehrere Handelsstreitigkeiten über Straf- und Vergeltungszölle zwischen beiden Handelspartnern ausgetragen werden, befürchtet die Branche Eskalationsstufen in den Handelsbeziehungen. Insbesondere europäische Vergeltungszölle auf US-amerikanische Agrar- und Lebensmittelimporte in sektorexternen Handelsstreitigkeiten, die sich nachteilig auf die Lieferbeziehungen und Absatzwege der Branche auswirken, lehnt die Ernährungsindustrie ab. Vergeltende Zollerhöhungen auf US-Importe sowie daraus möglicherweise folgende Vergeltungsmaßnahmen auf europäische Lebensmittelexporte treffen die deutsche Ernährungsindustrie durch steigende Rohstoffpreise sowie einer verschlechterten Wettbewerbsfähigkeit am US-Markt doppelt hart. Daher müssen bestehende Handelsstreitigkeiten vollständig befriedet werden. Oberste Priorität sollten angesichts der Bedeutung des US-amerikanischen Marktes für die Ernährungsindustrie zwingend langfristig orientierte Ambitionen zwischen der EU und den USA zum Abbau und zur Prävention nicht-tarifärer und regulatorischer Handelshemmnisse haben.
Angesichts der globalen Herausforderungen einer nachhaltigen Versorgung der wachsenden Weltbevölkerung mit sicheren Lebensmitteln, fordert die Ernährungsindustrie von den EU-Institutionen mehr Unterstützung bei der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030 und der Einhaltung des Pariser Klimaabkommens. Die Ernährungsindustrie setzt als klare Ziele für die Transformation der Lebensmittelproduktion eine gesunde, ausgewogene und nachhaltige Ernährung für alle europäischen Verbraucher, die Vermeidung und Verringerung von Lebensmittelabfällen und -verlusten, eine klimaneutrale Lebensmittelkette, eine optimierte zirkuläre und ressourceneffiziente Lebensmittelkette, integratives und nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung, nachhaltige Wertschöpfung durch Partnerschaften sowie nachhaltige Beschaffung in den Lebensmittelversorgungsketten. Damit Unternehmen in diese Nachhaltigkeitsziele weiter signifikante Investitionen tätigen können, braucht es von der EU-Politik international wettbewerbsfähige Mindeststandards für Nachhaltigkeit, aber auch wirksame und zielgerichtete Förderprogramme für eine wirtschaftliche Transformation aller Unternehmen und Sektoren.
Die Branche muss dabei durch eine kohärente und abgestimmte EU-Nachhaltigkeitspolitik unterstützt werden, die freiwilliges unternehmerisches Engagement fördert und eine verhältnismäßige, faktenbasierte Regulierung anstrebt. Es dürfen keine Kompromisse für die Lebensmittelsicherheit, Qualität, Ernährungsweise oder Gesundheit gemacht werden, ebenso ist von ungerechtfertigten diskriminierenden und konsumlenkenden Politikmaßnahmen Abstand zu nehmen.
Mit Europa ist es der Ernährungsindustrie gelungen, zukunftsfeste Beschäftigungsmöglichkeiten für rund 643.000 Mitarbeitende in Deutschland und auch darüber hinaus zu bieten. So arbeitet schon heute jeder 13. Mitarbeiter der Ernährungsindustrie für sein Unternehmen an einem Standort im EU-Ausland. Und jeder vierte Euro Umsatz und damit auch Arbeitsplatz hängt in der deutschen Ernährungsindustrie vom Geschäft im EU-Ausland ab. Der Binnenmarkt und die Arbeitnehmerfreizügigkeit sind damit nicht nur die Grundpfeiler der Europäischen Union, sondern auch die Basis für das Handeln der Unternehmen.
Die Ernährungsindustrie fordert von den EU-Institutionen die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu bewahren und von unnötigen Bürokratiekosten zu entlasten. Die europäische einheitliche digitale Entsendemeldung muss eingeführt und Melde- und Dokumentationspflichten abgebaut werden, die bestehenden Regelungen für A1-Bescheinigungen sind nicht praxistauglich. Es braucht klare Informationen zu Entsendung, welche auch mehrsprachig verfügbar sein sollten. Kurze dienstliche Normalfälle sollten von der A1-Pflicht ausgenommen werden. Ferner müssen die Sozialversicherungsregeln für grenzüberschreitendes mobiles Arbeiten vereinfacht werden.
Das Arbeits- und Fachkräftepotential sollte weiter erhöht werden. So sollen interessierte Arbeitskräfte durch einen „EU-Talentpool“ besser erreicht und die Anerkennung von Qualifikationen europaweit vereinfacht werden. Die Blaue-Karte-EU ist ehrgeizig umzusetzen und gezielte europäische Empfehlungen für Erwerbs- und Ausbildungsmigration sind einzubringen.
Europaweit ist die Sozialpartnerschaft heute verankert. Gerade für die deutsche Ernährungsindustrie bedeutet eine starke Sozialpartnerschaft, die Möglichkeit auf die vielen branchen- und regionalspezifischen Bedürfnisse der Lebensmittelhersteller angemessen einzugehen. Dabei kann insbesondere der europäische Soziale Dialog der Sektoren frühzeitig übergeordnete Zukunftsfragen und Herausforderungen der Ernährungsindustrie identifizieren und zu einem Austausch über Lösungsmöglichkeiten beitragen. Die EU-Institutionen sind daher aufgefordert, die Sozialpartnerschaft und den Sozialen Dialog der Sektoren auf europäischer Ebene weiter zu fördern.